Publishing 4.0 — Chancen, Anforderungen, Konzepte

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Studie 2016: Cross-, Hybrid-Media und Digital Content-Services

1. Publishing 4.0 folgt dem Muster der Industrie 4.0.

Mit dem Internet der Dinge bzw. Internet of Everything als allgegenwärtige Vernetzung von Menschen, Maschinen und Produkten kündigt sich eine Revolution an, die als „Industrie 4.0“ bezeichnet wird: Mit der Mechanisierung beginnend, entlasteten Maschinen den Menschen zunächst von körperlicher Arbeit. In der „Industrie 4.0“ unterstützt die Technologie sie durch Automatisierung, Digitalisierung und Vernetzung bei Gestaltungs-, Produktions-, Informations-, Kommunikations- und Steuerungsprozessen. Durch das Konzept „Publishing 4.0“ wird dieses Muster auf die Medienbranche übertragen. Weil Medienprodukte vollkommen digitalisierbar sind, ergibt sich ein besonderes Potential für Produktivitätssteigerung, für innovative Produkte und Services sowie neue Geschäftsmodelle.

 

2. Von Hybridmedia zu Content-Services: Konsequente Kundenorientierung ist der Kern von Publishing 4.0.

Die crossmediale Publikation von Medieninhalten über alle Kommunikationskanäle kann nur als ein erster Schritt hin zum „Publishing 4.0“ bezeichnet werden. Durch konsequente Kundenorientierung und auf Basis der digitalen, semantischen Aufbereitung von Inhalten und deren produktübergreifender Vernetzung mit Kundenprofilen werden neue Medienformen bis hin zu personalisierten Content-Services möglich.

Gleichzeitig ist, wie beim „Industrie 4.0“-Konzept, eine Vernetzung von physischen und digitalen Produkten in Form von Hybrid Media-Umsetzungen möglich, z.B. durch Augmented- und Virtual Reality: Aber nicht nur Printmedien, sondern alle Dinge sind im „Internet of things“ digital vernetzbar, so dass diese zum kontextspezifischen „Display für Content“ werden können.

Nicht nur für Produkte und Services, sondern auch für das Marketing bietet das Konzept „Publishing 4.0“ neue Ansätze: Durch die Vernetzung mit den Kunden über Plattformen und „Devices“ wird eine Ansprache möglich, die sich am Kundenbedarf orientiert. Basis für diesen Kundendialog ist eine wachsende Datenbasis (Big Data), deren Analyse eine Marketingsteuerung bis hin zum einzelnen Kundenprofil ermöglicht.

Die wachsende Bedeutung von digitalen Vermarktungswegen erfordert von den Verlagen eine Ausrichtung des Marketings auf „Sichtbarkeit“ (Discoverability), denn nur so können Kunden Produkte und Services wahrnehmen und kaufen. Inhalte werden so zum zentralen Marketingtool: Für das Content Marketing muss der Content mit den gleichen Tools wie der Produkt-Content gemanagt werden.

 

3. Bei Publishing 4.0 werden aus Nutzern Prosumenten und aus Wettbewerb Coopetition.

Aus Konsumenten von Medien werden Prosumenten, die sich nicht nur in Social-Media-Kanälen austauschen, sondern sich ihre Medienprodukte auf Content-Plattformen selbst zusammenstellen oder sogar erstellen können. Durch die Messung dieser Nutzerdaten in Echtzeit bieten sich für Verlage neue und verbesserte Möglichkeiten für die Produktentwicklung und -vermarktung: Zunächst um kundenzentrierte Produkte und Services anzubieten, dann aber auch, um aus den Datenanalysen Informationen für das Produktmanagement bei Neu- und Weiterentwicklungen zu gewinnen.

Mit Blick auf die Kunden, die sich zentrale Zugangsportale wünschen, und auf die hohen IT- Investitionskosten, werden aus Wettbewerbern zunehmend Kooperationspartner. Ein Beispiel hierfür sind Fachportale oder Bildungsangebote, auf denen Inhalte von verschiedenen Verlagen eingestellt und miteinander verknüpft werden. Auf diesem Weg entstehen durch Coopetition Plattformangebote mit innovativen Content-Services und neuen, plattformbasierten Geschäftsmodellen.

 

4. Geschäftsmodelle bedingen Produkte und Prozesse.

Der Wandel der Fachverlage zu Service- und Informationsdienstleistern zeigt, in welche Richtung sich Verlage beim „Publishing 4.0“ entwickeln werden: Nicht mehr das Produkt, sondern kundenorientierte Prozesse stehen im Fokus der Tätigkeit, da nur durch eine prozessorientierte Arbeitsweise die Dynamik und Flexibilität der „Publishing 4.0“-Geschäftsmodelle unterstützt werden kann. Zur Umsetzung dieser Prozessorientierung wird ein professionelles Geschäftsprozessmanagement benötigt, bei dem auf Grundlage von ganzheitlichen Geschäfts- modellen Prozesse modelliert und Produkte und Services entwickelt werden.

 

5. Produktvarianten bis hin zu individuellen Medienprodukten und Services brauchen Automatisierung, Standardisierung und Geschäftsprozessmodellierung.

Standardisierung bildet die Grundlage für die Umsetzung von „Publishing 4.0“: Diese ermöglicht es einerseits, Prozesse beherrschbarer und damit effizienter zu machen, und ist andererseits Voraussetzung für Automatisierung und Arbeitsteilung. Verlage sollten dabei vorhandene Standards nutzen und adaptieren. Um „Publishing 4.0“-Produkte und Services zu entwickeln und dafür Produktionssysteme auszuwählen, empfiehlt sich eine Kombination beispielsweise aus folgenden vier Ansätzen:

  1. Geschäftsprozessmodellierung (u.a. unter Verwendung standardisierter Workflow-Elemente der Berliner Werkstatt Herstellung)
  2. Agile Vorgehensmodelle, beispielsweise User-Story-Maps
  3. Beschaffenheitsstandards wie XML, E-Pub, DocBook oder DITA
  4. Anforderungsschablonen oder UML als Verständigungsstandards

 

6. Inhalte müssen medienneutral, intelligent und maschinenlesbar aufbereitet werden.

Eine weitere Basis für „Publishing 4.0“ bilden strukturierte Dokumente und Daten für eine automatische und im Folgeschritt intelligente und maschinelle Weiterverarbeitung. Dafür ist die medienneutrale Datenhaltung in XML und die strukturierte Erfassung in Dokumentenstandards wie DocBook oder TEI eine Grundvoraussetzung. Nur so ist eine Weiterverarbeitung (beispielsweise über Transformationsskripte) oder der automatische Daten-Austausch mit anderen Systemen möglich. Zur intelligenten und maschinenlesbaren Aufbereitung gehören auch die Metadaten, die nicht nur im Hinblick auf die Distribution eine zentrale Funktion beim „Publishing 4.0“ erfüllen. Auch hier gibt es mit dem ONIX-Format und der THEMA-Klassifikation bereits weltweite Standards.

Durch ein „Semantic Enrichment” werden intelligente und vernetzte Content-Services möglich. Den Rahmen für das semantische Tagging bilden Taxonomien, Thesauri, Topicmaps oder Ontologien als Grundlagen für die Inhaltsklassifikation und Vernetzung nach dem Linked-Open-Data-Konzept.

 

7. Publishing 4.0 hat Geschäftsmuster, die als Orientierung für die Strategieentwick- lung dienen können.

Es lassen sich 4 Geschäftsmodellmuster unterscheiden:

  1. Beim printfokussierten Modell steht das gedruckte Werk im Mittelpunkt der Wertschöpfung, auch wenn daraus digitale Verwertungen entwickelt werden.
  2. Beim crossmedialen Modell geht es um die Erstellung und Auslieferung von (optional unterschiedlichen) Inhalten auf unterschiedlichen Kanälen.
  3. Beim hybriden Modell geht es um die Verknüpfung von physischen und digitalen Medien.
  4. Beim „Publishing 4.0“-Modell geht es um die Erstellung von plattformbasierten und kundenorientierten Content-Services.

In der Realität der Verlage existieren diese Modelle nebeneinander und erfordern ein komplexes Management unterschiedlicher Geschäftsmodelltypen.

 

8. Die bausteinbasierte Modellierung von Geschäftsmodellen und Geschäftsprozessen mit einfachen Standardsprachen bildet die Grundlage für eine erfolgreiche Umsetzung von Publishing 4.0.

Mit dem „Content Business Engineering”-Ansatz bietet das Konzept von „Publishing 4.0“ ein Modell zur ganzheitlichen Entwicklung von Geschäftsmodellen und Definition von Geschäftsprozessen. Zwei Modelle bilden die Grundlage:

  1. Zur Geschäftsmodellentwicklung wird das „Business Modell Generation Canvas“- Modell verwendet.
  2. Zur Geschäftsprozessmodellierung werden die Workflow-Elemente der Berliner Werkstatt verwendet und wie folgt erweitert: Einerseits über branchenspezifische und damit für den Fachbereich verständliche Notationen in Anlehnung an die Picture Methode. Andererseits werden sie technisch erweitert, um in das Cloud-Modell des „Business Process as a Service“ (BPaaS) integrierbar zu sein.

Als Vision wird so eine ganzheitliche Methode zur „Publishing 4.0“-Geschäftsfeldentwicklung geschaffen: Von der Strategieentwicklung über die Geschäfts- und Prozessmodellierung bis hin zur Implementierung über einen durchgängig bausteinbasierten Lösungsansatz.

 

9. Publishing 4.0 benötigt eine cloudbasierte und modulare IT für den gesamten Workflow vom Autor über Redaktion bis Leser bzw. Prosumenten.

Um die Dynamik und Flexibilität einer „Publishing 4.0“-Konzeption umsetzen zu können, müssen alle Teilnehmer in der Wertschöpfungskette über eine web- und cloudbasierte IT- Infrastruktur eingebunden werden. Der gesamte Prozess von der Produktkonzeption über die Content-Erstellung bis hin zur Vermarktung muss über miteinander vernetzte IT- Bausteine abgebildet werden können. Solche Lösungen müssen als „Publishing-Workflow as a Service“ umgesetzt werden, denn so sind sie skalierbar und können sogar nur projektbezogen genutzt werden. Damit sind sie auch von kleinen Verlagen ohne große IT-Budgets nutzbar.

 

10.Publishing 4.0 bedeutet die Einstellung auf die permanente Veränderung von Kundenbedürfnissen, Wettbewerbsumfeld und Geschäftsmodellen.

Das Konzept von „Publishing 4.0“ ist durch seine Flexibilität auf die immer schneller werden- den Veränderungen in den Bereichen Gesellschaft, Technologie, Medien, Kunden und Ge- schäftsmodelle optimal eingestellt: Die Prozesskette – von der Erstellung bis zur Vermarktung – ist jederzeit an neue Technologien und Geschäftsmodelle anpassbar. Im Mittelpunkt steht die Erhöhung des Kundennutzens durch ein zunehmendes Angebot von Contentservices (anstelle von Produkten) und die erhöhte Vernetzung mit Kunden und Partnern. Dabei ist eine strategisch sensitive Beobachtung von veränderten Wettbewerbsumfeldern und Kundenbedürfnissen die zentrale Aufgabe.

Die Herausforderung für die Verlage besteht darin, diese sich ständig ändernden Anforderungen durch eine Anpassung der Unternehmenskultur zu ermöglichen und nachzuvollziehen. Diese Anpassung betrifft alle Bereiche des Unternehmens, von der Organisation, über Abläufe, Kommunikation, Mitarbeiter bis hin zur Führungskultur. Ohne dieses „Change- Mindset“ wird ein Verlag nicht in der Lage sein, das Konzept von „Publishing 4.0“ umzusetzen.

Autoren

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg: Jörn Fahsel, Professur für E-Publishing und Digitale Märkte – Institut für Buchwissenschaft

Heinold, Spiller & Partner Unternehmensberatung GmbHEhrhardt F. HeinoldGeschäftsführer

http://www.buchwissenschaft.phil.uni-erlangen.de/uploads/tx_bwe/P4.0-Studie-2016_Management_Summary_01.pdf